Ich bin fünf Jahre alt und es ist Herbst. In meinen Erinnerungen ist eigentlich immer Herbst.
Blätter fallen, Wind weht kraftvoll, die Natur zeigt sich in diesen Brauns und Rots und Gelbs, von denen später viele sagen werden, dass sie mir stehen.
„Schlammtöne, Erdfarben“, sagt meine Mutter in meiner Cordhosen- und- zu-großes- Karohemd- Phase Mitte der 90er und bis heute ist mir nicht klar, ob ich mir den Unterton nur einbildete.
Vor allem ist wohl immer Herbst, weil ich dann in Gummistiefeln und Regenjacke in meinen Erinnerungen herumstolzieren darf.
Die Stiefel sind weiß, haben eine quietschige, dicke dunkelblaue Sohle, einen flauschigen, sehr sehr breiten Saum, der ulkige Falten wirft, wenn man ihn mit dem blauen Band mit weißem Plastikhütchen an der Spitze zusammenzieht und einen Knoten macht.
„Das kann ich schon selbst!“.
Auf dem weißen, glatten Stiefel-PVC sind viele kleine Segelboote. Dunkelblaue Masten, hellblaue Segel, winzige schwarze Wellen brechen am Bug. Jedes Boot hat seine eigene noch winzigere, blassgelbe Sonne.So erinnere ich das jedenfalls, sicher, weil die Sonne nie schaden kann, schon gar nicht im Herbst.
Exzentrisch, so wird meine Patentante meinen so expliziten Wunsch nennen, dass sie mir genau solche wieder kaufen solle, jedesmal, wenn ich herausgewachsen bin. Ostern- Geburtstag- Weihnachten, das haut schon hin. Und sie wird sie mir wieder und wieder kaufen, viele Jahre lang. Trotzdem. Oder gerade deshalb?
Regengüsse sind mir dadurch sehr willkommen und ich genieße es, wenn meine schillernden Gummistiefel in das brackige Pfützenwasser eintauchen, hohe, braungraue Fontänen stampfend durch die Luft spritzen. Schlammfarben.
Die Regenjacke. Eher ein Regenmantel. Quietscheentengelb, immer etwas steif, die Bewegung der Arme dadurch ulkig eingeschränkt wie bei einer Comicfigur: Wenn ich nach der Reckstange auf dem Spielplatz greife, beidhändig vorsichtig, rollt der Ärmel stets hoch bis kurz unter den Ellbogen und zieht den Pulli darunter immer etwas mit.
Ich stehe auf dem Spielplatz, meinem Spielplatz, der fußläufig erreichbar ist ohne große Straße, „gefährliche Straße“, wie sie sagen.
„Das kann ich schon selbst!"
Die Rutsche ist ein riesengroßer Elefant, mit sechs i.. Der Elefant ist natürlich knallrot, strahlend rot, bis auf das schwarze Gummipfropfenauge, über das ich so oft nach oben steige statt über die hölzerne Treppe. Also, wenn ich dann erstmal sechs bin.
Ich begreife, was für große Tiere Elefanten sind, lass mir oben immer verwegen ein bisschen die Höhenluft um die Nase wehen, bevor ich die blendend silberne Rutschfläche der gießkannengrünen Rüsselrutsche heruntersause in wahnwitzigem Tempo, den Hintern durch den Regenmantel geschützt vor der Nässe. Es ist lange so, dass mein Herz stets einen Hüpfer macht ob des großen Mutes, diese steile, lange Abfahrt zu wagen.
33 Jahre später. Herbst, wie passend. Ich laufe durch das Viertel, in dem das Haus mal stand, bevor der Bagger kam. Auf dem Weg zurück von einem Freund. Heimaturlaub.
Die weitläufige Allee mit dem holprigen Asphalt ist einem engen Neubaugebiet gewichen. Schlumpfhausen. Reihenendhaus mit akkuraten, gästehandtuchgroßen Gärten. In der Mitte der irgendwie rund angelegten Siedlung liegt der Spielplatz nach wie vor, aufgepimpt durch eine futuristische Kletterspinne in gedeckten Nicht- Farben, die klobig aus dem Rindenmulch herausragt.
Aber er ist eben auch noch da, mittlerweile einem Mammut nicht unähnlich, wie er da leicht windschief hockt, ein prähistorisches Relikt aus alten Zeiten.
Ich setze mich auf die rostrote Bank am Rande des Spielplatzes und betrachte den Elefanten. Meinen Elefanten. Mickrig steht er da, die Ohren auf vielleicht 1,20 m Höhe, die Rutschfläche, stumpf und beschlagen, fast waagerecht.
Die Farben von der Zeit verwittert und abgeblättert, erscheinen mir heller als in meinen Erinnerungen, irgendwie zurückhaltend, kränklich fast. Der Sand klumpt in einem Grauocker und irgendjemand hat offensichtlich Graffiti- Übungen gemacht über die gesamte Holzfläche. Im fahlen Blau schlechter Tattoos unleserliche Tags. Schwungübungen. Dann ein deutlich lesbares „UND“, natürlich mit Ausrufezeichen und da hinten noch „Frust“. Stillleben mit Untertiteln.
Ich stehe auf, irgendwie gelähmt und bin froh, dass Stiefel und Mantel irgendwann mal weggeworfen werden mussten, als es einen Wasserschaden im Keller gab.
Als ich oben auf dem Elefanten stehe, mich mit krummem Rücken auf die Rutsche setze und auf dem Weg nach unten ordentlich mit beiden Händen nachhelfen muss (wobei meine Ärmel fast bis zu den Ellbogen hochrutschen), bin ich erleichtert, dass an den zahlreichen identischen Küchenfenstern kein Mensch zu sehen ist.
Kommentar schreiben