Die Sonne sticht mit großer Kraft durch die riesige bodentiefe Fensterfront des Cafés. Das Wasser im Hafenbecken schillert silbern im strahlenden Sonnenschein dieses Sonntagvormittages im Februar. Er sitzt an einem Tisch direkt am Fenster, mit Meerblick, wie er schmunzelnd denkt. Der Schatten des Stifts in seiner Hand nähert sich dem losen weißen Papierstapel und wird kurz bevor die blaue Tinte in zügigen Bewegungen Kritzeliges zu Papier bringt, schwarz, scharf umrissen und seltsam... fotografisch, vielleicht .
Eine Liste auf dem Blatt: „Alles, was ich in meinem Leben verloren habe.“ Automatisches Schreiben. Ab jetzt! Bis zur leicht New- Agigen- Weckermelodie seines Handys. Es läuft, fließt eher. Er scheint Verlustexperte oder ist es vielleicht das, was er neulich las, dass der Mensch drei- bis fünfmal besser und intensiver Negatives erinnert? Wobei, nur Negatives ist da sicher nicht auf dieser Liste, fast zwei Din A 4- Seiten lang:
Milchzähne, die Nummer eins auf der Liste, z.B. sind eine sehr gute Verlustübung, die Natur hilft ordentlich nach und der Sinnrahmen ist spätestens mit den „Bleibenden“ solide geflickt. Milchzähne verlieren, das macht schon Sinn. Die Kiste, in denen sie drin steckten (Nr.2), penibel bewahrt zwischen Trauer und Stolz. Eine Universal- Zündhölzer- Schachtel, das U ganz tief bauchig, Feuerfarben als Hintergrund. Gut auch, dass es diese nicht mehr gibt, sie plötzlich unauffindbar war, als er das Bewahrte wohl nicht mehr benötigte, das Erinnern scheinbar nicht mehr nützlich, der Bleibenden wegen, vermutlich.
Die Zähne in der Kiste, die er Oma zeigt. Wie bei einer Babuschka stapelt sich da Erinnerung in Erinnerung in Erinnerung, steckt ein Verlust in dem nächsten, in einem dritten. Ein Unterschied ist nur auf den ersten Blick das mit den „Bleibenden“. Als seine Oma ging war er erst untröstlich, es gab keinen Ersatz, es konnte keinen geben, sie war ja schließlich einzigartig.
Leberkrebs. Auch Ikonen werden die Limits, das nahende Ende wohl recht schnöde präsentiert. Oft von ungelenken Ärzten in viel zu kurzen Momenten und an viel zu seltsamen Orten. Seelenlos.
Als die Familie beschloss, die pharmazeutische Artillerie ruhen zu lassen, ein für alle Mal, Zettel unterschrieben („do not reanimate“), Pflegeutensilien bestellt wurden- den Klostuhl z.B. würden die von dem Sanitätshaus erst über ein Jahr nach ihrem Tod wieder abholen- wurde er konkreter, der nahende Verlust. Oder war es das Gefühl von Vertrautem, das sich entfernte?
Ein letztes Weihnachtsfest, das war der Plan. Ihr Plan. Dieses ist jetzt 15 Jahre her und doch erinnert er sich genau an die Farbe des Gesichtes, das dem Beige der Alpacca- Sofadecke immer ähnlicher wurde, an den kruden Mix von Desinfektionsmittel und Plätzchenduft, an Opa, der sich längst nicht mehr versunken zum Fenster wandte, um zu weinen. Und an viel Angestrengtheit. Bei ihren Töchtern, die alles richtig machen und gleichzeitig nichts verpassen wollten und auch bei ihm selbst, der er diese Brustschwere wegquatschen, -lächeln, -nicken wollte.
Nur sie lag da in einer Leichtigkeit, wie ein Hauch, ein Schatten vielleicht. Ein Frühlingsschatten im Winter. Schon einige Jahre erzählte er es als das „dichteste“ Weihnachten seines Lebens. Ja, „dicht“ sagte er. Hohe Konzentration, heilig fast, jenseitige Schwere, die auf diesseitigen Anekdötchen (mit „sch“, so würde sie es sagen) ruht. Ruht, nicht lastet.
Drei Wochen später stirbt seine Oma. Zuhause. Es gibt diesen Moment, ein bisschen wie in „Big Fish“, in dem die ganze Familie vor dem Schlafzimmer, das jetzt ein Sterbezimmer wird, steht und sitzt und wartet. Und jeder noch mal reingeht.
„Ich muss jetzt gehen“ sagt sie, zahnlos, um nicht zu ersticken an ihren Zähnen, skurril so kurz vor dem Ende. Und dann schauen sie sich an. Er weint und nickt, sprechen geht nicht, endlich geht sprechen mal nicht. Überall ist diese traurig- klebrig schwere Masse wie flüssiger Zement.
„Ich muss jetzt gehen“. In seiner Erinnerung wiederholt sie es. „Versprich mir eins“. Er nickt, verklebt und stumm. „Denk an mich und komm´ mich besuchen“. „Ja“. Ein Krächzen. Ein Lächeln.
Seine Hände halten die ganze Zeit ihre und drücken sie jetzt. Er geht rückwärts aus dem Raum, versucht, den Blickkontakt so lange wie möglich zu halten, selbst, als sie längst erschöpft die Augen senkt. Den letzten, das war ihm schon damals klar.
Zurück im Hafen. Er hat sich einen kleinen Salat bestellt, ist hungrig geworden von der Erinnerung. Aus der Liste ist längst eine Geschichte geworden und gerade denkt er daran, dass er sein Wort schon viel zu lange nicht mehr eingelöst hat. Beim nächsten Heimatbesuch, sicher.
Der nächste Punkt auf der Liste ist „das Gefühl der Unsterblichkeit“, was natürlich eng mit dem Tod seiner Oma, er erzählt es immer als seine Premiere des Todes einer engen Verwandten, obwohl das überhaupt nicht stimmt, zusammenhängt.
Gute Dinge gehen. Das ist eine Kernerfahrung, eine traurige, eine gewisse, sichere. (Schlechte gehen genauso, das wird aber noch viele Jahre dauern, bis er dies wirklich anfängt zu glauben.)
Und letztlich ist dies nur die eine Seite, wie er denkt. Erinnerungen, Verklärungen, Erfahrungen, kurz: Geschichten sind das, was bleibt und sie sind gleichermaßen angefüllt mit der Dunkelheit des Trennenden, Vergänglichen wie dem Strahlen der Dinge, die über-leben.
Und so wäre die Geschichte von damals im Januar vor 15 Jahren natürlich weiter zu erzählen. Als Bestandteile wären die zentnerschwere Stille in der Küche nach der Verkündung des Arztes unabdingbar, sein Zorn auf die Geschäftigkeit seiner Familie beim Verrichten all der entwürdigenden Formalia und der kilometertiefe Schmerz beim Absenken des Sarges in die Erde und die Endgültigkeit. Das obszöne Knarzen des Seilzuges hat er bis heute in den Ohren. Zudem die vollkommene Lähmung seines Bruders, seines großen Vorbildes, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißt. Auch ein Verlust.
Aber sie wäre nicht komplett, die Geschichte. Fehlen würde die befreite Albernheit dieser Familienbande in ihrer Wagenburg- Küche beim Ausfüllen der Trauerkarten auf dem Resopal- Tisch, sein erster Besuch am Grab, die Fußspitzen unentwegt nervös tänzelnd auf der marmornen Grab- Umrandung, der ihm sofort ein offenes Gespräch ermöglicht, ohne sich schräg vorkommen zu müssen. Oder auch das erste Osterei, handgefärbt und rot, das er auf die dunkle Erde zwischen die Frühblüher legte.
Und das selbstverständliche Einbeziehen von ihr, schon bald, wie sie ihn heute als geflügeltes Wort begleitet, auch seinen Schülern gegenüber: „ Also, meine Oma hätte jetzt gesagt…“. „Muss ne schlaue Frau gewesen sein“. „Allerdings“.
Wieder so ein Babuschka- Ding: Sie als Teil seiner Geschichte, Ummantelung und Kern gleichermaßen. Das Bleibende, das durch das Gehende durchscheint, ohne Zeit auskommt, seine Anker auswirft und sich anhaftet an Gedanken, Gerüchen, Gesten, Augenblicken, Menschen.
Es erschrak ihn zunächst, wie üppig fließend sie sich füllte, die Verlustliste. Eine Liste voller Geschichten des Scheiterns, Abschiednehmens, des Trennungsschmerzes. Aber eben auch eine Liste seines Lebens, eine Liste voller guter Geschichten (seine Schüler mögen seine Oma z.B. auch schon ziemlich doll), voller Loslassen und Wegkreuzungen. Und in all dem immer auch Geschichten, die Vorgeschichten haben und wiederum welche sind, ineinander gestapeltes Leben. Mit und ohne Schmerz.
Der Teller ist leer, ölige Vinaigrettereste glotzen mit ulkigen Augen. Warm ist ihm geworden vom Schreiben und der Sonne. Die schwitzige Hitze unter seinem Winterpulli lässt ihn ahnen, wie lange er hier schon sitzt. Sitzt und schreibt. Geschichten. Seine Geschichten, während die sanften Wellen und all die sonnenbebrillten Menschen im Hafenbecken silbern glitzernd den Frühling ankündigen. Oder den Winter verabschieden.
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