Da sitzt du also. Ich bin immer wieder erstaunt, wie unbekannt du mir erscheinen kannst. Ich habe den Verdacht, dass es eine vor-dem-Spiegel-Pose von dir gibt, ein vor-dem-Spiegel-Ich vielleicht sogar. Leicht angestrengt, Schultern in die Höhe gezogen und den Bauch gleichermaßen eingezogen und vorgestreckt. Bewegung gewordene Selbstunsicherheit, so kommt mir das immer vor.
Aber jetzt hast du dir einen Stuhl genommen und sitzt da und wir schauen uns an. Der Moment, wenn wir eins werden und doch zwei bleiben. Einem Kippbild ähnlich oder dem Augenblick, wenn sich bei starkem Schneetreiben die Bewegung der Flocken an der Autowindschutzscheibe umkehrt, als würde der Schnee vom Betrachter wegwehen. Schaust du mich jetzt an? Ich jedenfalls betrachte dich.
Sehe leicht gerötete Augen, das von mir aus rechte etwas kleiner, wie du es immer hast, wenn du müde bist oder erschöpft. Genau, erschöpft siehst du aus, mit feinen Falten an der Außenseite der Augen, einer gut erkennbaren Furche links und rechts der Nase. Die Haare hängen zerzaust in Stirn und wirken, als hätten sie ein Eigenleben, starrsinnig vermutlich.
In deinem Bart mit den vielen Farben hat sich ein mittlerweile auch ein gut erkennbares Weiß eingenistet, vereinzelt noch, auf beiden Seiten des Kinns. Die Barthaare sind zudem ein wenig zu lang geworden, beginnen sich zu kräuseln, vereinzelt finden sich sogar schon einige auf den Wangenknochen. Und doch gefällt es mir, dieses Bärtige an dir. Es gibt dem unteren Drittel deines Gesichts das Männliche, Erdige, fast wie eine Gegenbewegung zu den oftmals aufgeregt flackernden Jungsaugen.
Die Brille –ich mag sie immer noch und bin so froh, dass du dich damals auf einen Rat eingelassen hast- ist seltsam weit geworden und einige Zentimeter von den Augen weggerutscht. Da baumelt sie jetzt etwas verloren auf der recht breiten Nasenwurzel.
Jetzt spielst du mit deinen dichten Augenbrauen, ziehst sie mal hoch, um sie dann wieder fallen zu lassen. Die Falten auf der Stirn wie eine Ziehharmonika. Ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen. Wenn du zweifelnd, schmollend guckst entstehen senkrechte Falten bis runter an die Stelle, wo deine Augenbrauen sich beinahe berühren. Wenn du dieses Spiel beendest bleibt mittlerweile eine feine Zeichnung dieser Falten zurück, wie durchgepaust von… der Zeit. Oder dem Leben?
Die Ohren lugen hervor zwischen Bart- und Kopfhaaren, eine rosa Insel im dunklen Gekräusel. Lustig sieht das aus. Sie sind groß, die Ohrläppchen freischwebend, die Ohrmuschel klar konturiert.
Ich mag deine Ohren.
Ich könnte nicht gut sagen, wie alt du bist, weiß generell nicht mehr wirklich wie man das macht, dieses Schätzen von Alter. Da gibt es das Müde, Alte, Markierte, aber eben auch die rosige Haut der Wangen und dieses Jungsgeglotze. Du bist in einem Dazwischenalter und dein Gesicht sagt das ziemlich gut aus.
Eben gab es den einen Moment, als wir beide uns anschauten und es aushielten, unverstellt und aufmerksam. Dafür müssen wir beide etwas loslassen, raustreten aus inspizierendem Betrachtungsmodus auf der einen, vom Blick in die Weite wie durch das Spiegelbild hindurch auf der anderen Seite. Den Preis, den wir beide zahlen ist dann, dass wir uns nicht fest und ausdauernd in die Augen blicken können, sondern eher dahin, wo mancher Weise ein drittes Auge vermutet. Ich dich somit eher im Ganzen sehe. Mir einen Überblick verschaffe.
Und du dich anblicken lässt für diesen einen Moment der Verbundenheit. Die Adern an deinem Hals gut sichtbar, was zu meinem Herzklopfen passt, das sich erstaunlicherweise aber angenehm anfühlt. Es ist aufregend, wenn wir uns diesen Moment gegenseitig geben.
Ernst siehst du dann aus. Ein wenig melancholisch, vielleicht. Ruhig. Wir lächeln uns an. Du bist in Ordnung, auch müde und still. Ich würde dir gerne mehr erlauben von diesen Momenten, aber du fragst mich ja nicht. Oder doch? Wie wäre das, mehr Zeiten zu haben wie diese? Innehalten und betrachten, betrachtet werden? Ich hätte Lust dazu, ich habe dich gerne in meiner Nähe. Willst du auch? Ich würde es nicht verraten, wenn es dir schwerfiele, sondern würde üben mit dir und könnte sogar ausdauernd sein, vermute ich gerade. Komm, lass uns das machen. Ab und zu.
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