Salto mortale

Das Martinshorn zerschneidet den Straßenlärm und hallt tosend von der runden Decke des Eisenbahntunnels wider. Ich presse beide Hände auf die Ohren, beiße mir auf die Unterlippe und kneife die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen.

Wie jedesmal. Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass mich dieses Geräusch immer auf eine Reise schickt. Ganz weit zurück. Mich irgendwie verwandelt.

Es ist Herbst und der Neubau ist fast fertig. Ich spiele liebend gern auf dem großen Lehmhügel hinterm Haus, trage Matschhose, meine weißen Gummistiefel und schiebe eine knallrote Blechschubkarre über die Holzstehlen, die mein Opa behelfsmäßig als Stiege auf den Dreckberg, so nenne ich den Hügel, gelegt hat. 

Wir sind Bauarbeiter, Erdbewegung ist das Kerngeschäft. Und es gibt viel Erde zu bewegen seit dem Frühjahr. Seit klar ist, dass es schnell gehen muss, unser Haus, zerfressen und wackelig, uns nicht mehr länger ein verlässliches Dach über dem Kopf sein kann.

Die Entschädigung vom Bergwerksverein umgehend ins neue Haus gesteckt. Üppig soll sie gewesen sein, weil es noch Geld zu verdienen gibt mit Steinkohle, wohl so viel, dass diese Abriss- und Neubaukosten lächerlich erscheinen. Umtopfung unter Hochdruck. Auflösungserscheinungen.

Also wird für ein Frühjahr und einen Sommer der Dreckberg mein Spielplatz und mein Opa mein treuer Begleiter, wir beide somit irgendwie elegant aus dem Weg geschafft. 

Ich liebe die Touren auf Opas schwarzen, antiken Herrenrad auf dem Weg von Haus zu Haus. Von Ruine zu Rohbau. Ich sitze immer auf der Stange, stolz, groß, ein Gefühl von Verbotenem und Abenteuer. Ich bin ein Opakind und das hier ist das Paradies. Nach den Arbeiten im Dreck bin ich hundemüde, kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Weshalb Opa mich auf die Stange hievt und losradelt.

Baden, Bundesliga, Bett. Ich nicke vielleicht sogar ein auf dem Rad, jedenfalls baumelt mein begummistiefelter Fuß in die Speichen des Vorderrades, was natürlich eine Rekonstruktion aus heutiger Sicht ist, aber die einzig stimmige. 

Im Erleben so: Stocken, Fliegen, Landen, schwarz. Bordstein. Opa seltsam verdreht. Blut aus Ohren. Blut aus Augen. Fahrrad mühsam hochheben. Bein tut weh.

Walter kommt aus dem Haus: " Herr R.?" Stille.

"Ich denke, wir müssen einen Notarzt rufen."

Ich (hinter einer Nebelwand) lache. Glaube an einen lauen Witz. Meine Mutter ist da. Aufgetaucht. Aus dem Nichts. Oder sitz ich hier einfach schon lange auf dem Bordstein?

Ich werfe mich an ihre Brust. Sie hält mich. Ich will mich umdrehen, sie hält mich fester. 

Schnitt. Im Flur. Die Sirenen. Sie kommen ihn holen. Endlich weine ich, Kann gar nicht mehr aufhören. Weine, bis die Sirene leer ist. Schlafe schwer und tief.

Wache mit einem viel zu erwachsenen Wort auf. Schädelbasisbruch. Keine Ahnung, woher ich das habe.

Und mir tut nur der Fuß ein bisschen weh. Der Gummistiefel hat einen Riss in seiner dicken Sohle. Aber Opa stirbt. Denke ich sehr lange, denke ich auch, nachdem ich längst bei ihm war. Er bleich im Bett liegt und mit seltsam gelb leuchtenden riesengroßen Zähnen ein Lächeln versucht. Seine Schmerzen vermutlich überspielt, um mir die Angst zu nehmen.

Er ist nicht böse auf mich, was mich noch mehr überrascht als seine orangefarbene Jod- Stirn und all der Verbandsmull um seinen Kopf.

Ich habe keine Schuld, sagt Mama, sagt Oma, lächelt mein orangefarbener Opa. Und doch glaube ich es nicht so recht. Mein Baumelstiefel ist zumindest physikalisch die Ursache für diesen Unfall und am anderen Ende stecke nun mal...ich.

Ich also immer wieder in diesem Flur und will ein paar Minuten zurück spulen und es wieder gut machen.

Mein Opa stirbt knappe 30 Jahre später. An Krebs. In Stille. Sie kommen ihn nicht holen. Er geht einfach. 

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