Briefgeheimnis

Meine Oma kondoliert Franz- Josef Strauß zum Tod seiner Frau.

Sowas tut sie immer. Sie schreibt auch Berti Vogts, dass sie gerade ihm den EM- Titel 96 so gönnt, weil er oft so gehänselt wurde wegen seiner Größe. Und sie hält Franz Beckenbauer die sprichwörtliche Stange, als delikate Details aus seinem Privatleben in allen Regenbogenfarben schimmern.

Zudem pflegt sie gefühlte fünfzig Brieffreundschaften, einige davon über viele Jahrzehnte: Zu Frauen, mit denen sie in den letzten Kriegsmonaten evakuiert war, zu Krankenhausbettnachbarinnen oder Urlaubs- und Kurbekanntschaften. 

Außerdem dichtet meine Oma zu jedem Anlass mindestens Achtzeiler, berührend trashige Kleinode zwischen "reim dich, oder ich fress dich" und seelenvollen Aphorismen.

Das ist natürlich eine ziemlich tagesfüllende Angewohnheit und so sitzt sie auch Stunde um Stunde- also eigentlich immer dann, wenn sie nicht gerade strickt- in ihrem Schreibzimmer. "Da dörsch", wie sie es immer nennt, ein irgendwie berührender,  öffentlich- geheimer Ort, der seine Magie auch noch in diese Zeilen hier hinein behält.

Sie sitzt dann leicht gekrümmt an ihrem Sekretär, der wohl nirgends seinen per se skurrilen Namen derart verdient hat. Eine Schönheit ist er nicht in seinem Schlussverkaufbraun, aber sehr funktional. Akkurat ist das Briefpapier gestapelt, Umschläge, die ungebraucht oder zumindest "fast wie neu" sind in die Seite des kleinen Faches gesteckt, das sich direkt rechts neben der großen Schreibfläche befindet, die entsteht, wenn sie den Sekretär aufklappt. Um ihn nach getaner Arbeit stets wieder zuzuklappen und doppelt abzuschließen.

Meine Oma sitzt dann da auf dem Holzstuhl mit der abgegriffen- verblassten Sitzfläche und ihre großen Hände sausen mit immenser Präzision über das Papier. Kratzen Seite um Seite in ihrer großzügig rundgeschwungenen Handschrift, die unvergleichlich Sütterlin und fast kalligraphische Schreibschrift verbindet. Wenn sie sich verschreibt, was sehr selten passiert, weil sie hochkonzentriert ist bei ihrer Arbeit, streicht sie das falsche Wort mit einem kleinen Plastiklineal akkurat durch. Anschließend hat sie immer blaue Tintenreste - sie schreibt nie, nie mit Kulli- an ihrem kleinen Finger und sieht damit sehr geschäftig aus

Die Worte meiner Oma haben sicher viel Leid gemindert, Freude gestiftet und Bande geknüpft. Vor allem müssen sie besondere Kräfte haben, denn als meine Oma stirbt, beginnt mein Opa aus dem Stand zu dichten. Schlüpft in ihre Rolle, schreibt ihre Geschichte weiter, zu jedem Anlass. Sitzt auch jedesmal vor diesem Sekretär, sieht dort bis zuletzt seltsam unpassend aus, ein bisschen zu klein in diesem Zimmer, in dem er plötzlich auch ist, das aber wohl immer ihres bleibt. 

Meine Oma war eine zurückhaltende, vorsichtige, zutiefst moralische Frau von bisweilen heiligem Ernst und der Überzeugung, dass sie viele Dinge nichts angingen.

Mit dem Füller in der Hand schien sie mutig zu werden, traute sich, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen, in gemeinsamen Geschichten Nähe aufzubauen, Wichtiges, aber auch Unangenehmes nicht unausgesprochen zu lassen. Was Spuren hinterließ, nicht nur an ihrem kleinen Finger.

Ich glaube, sie hielt dies für ihre Aufgabe und damit für ihre Pflicht.

Und ich glaube, sie hatte mit beidem recht.

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